Einführendes Info
Gehörlos - was ist das
(geschreiben von einem Hörenden)
"Gehörlosigkeit ist einfach, wenn man nichts hören kann und mit den Händen redet - sonst ist alles genauso wie bei anderen Leuten", glauben viele Menschen. Und dann sind sie ganz verwundert, wenn ich widerspreche. "Was ist denn noch anders?", wollen sie wissen. "Ich hatte mal einen Kollegen, der konnte nichts hören, aber sonst war der ganz normal", erzählen manche. "Also, wo ist da der große Unterschied?"
Die Frage ist berechtigt, auf den ersten Blick erscheint ja alles so einfach und klar. Nur ist die Antwort nicht so leicht. Denn natürlich ist ein Gehörloser nicht wie der andere, und man kann nicht mal eben eine Studienreise nach Gehörlosistan oder Gebärdenland machen, um die Lebensweise der Bewohner kennenzulernen. Trotz mehrerer Jahre Unterricht in Gebärdensprache, Selbstversuchen mit Ohrstöpseln und weggedrehtem Ton am Fernseher, vielen privaten Kontakten zu Gehörlosen sowie Arbeit für und mit Gehörlosen kann ich Ihnen noch immer nicht erklären, wie es wohl ist, gehörlos zu sein. Nein, ich kann es mir nicht einmal vorstellen - viel zu tief sind wir Hörende in der Welt der Geräusche verwurzelt.
Was ich jedoch zu wissen glaube, ist, dass es zwischen Gehörlosen und Hörenden durchaus einige Unterschiede im Denken und Handeln gibt. Das meine ich keineswegs wertend! Ähnlich verhält es sich mit Nord- und Süddeutschen, Ost- und Westdeutschen. Der andere ist immer "irgendwie anders". Sich gegenseitig wirklich zu akzeptieren, fällt leichter, wenn man die Unterschiede kennt und annimmt, statt sie großzügig zu übersehen oder beiseite zu drängen. Um jemand anderen anzunehmen, wie er ist, muss man erstmal wissen, wie er ist.
Von "Du verstehst die Gehörlosen wirklich gut" bis "So ein Quatsch, das ist doch ganz anders" habe ich schon alle Stufen von Lob und Tadel bekommen, wenn ich dachte, etwas kapiert zu haben. Ich kann Ihnen hier also keine letzten Weisheiten bieten, sondern nur aus meiner Erfahrung und meiner ganz subjektiven Sicht ein paar Dinge schildern, worin sich Gehörlose von Hörenden unterscheiden. Vielleicht wächst so ein bisschen mehr Verständnis füreinander heran oder sogar die Neugierde in Ihnen, selbst einmal Gehörlose kennenzulernen und sich ein eigenes Bild zu machen.
Eine Welt ohne Musik
Häufig befällt Hörende Mitleid, "weil die armen Gehörlosen ja keine Musik und kein Vogelgezwitscher hören können." Mal abgesehen davon, dass die meisten Hörenden das vielgelobte "Vogelzwitschern" so gut wie nie bewusst wahrnehmen (das Gehirn filtert es als "unwichtige" Information heraus): Vermissen Sie die ultravioletten Farben der Blumen? Oder die Ultraschallrufe der Fledermäuse? (Menschen können kein ultraviolettes Licht sehen und keinen Ultraschall hören.) Wohl kaum. Ähnlich geht es Gehörlosen, die von Geburt oder frühen Kindesjahren an nicht hören können: Sie vermissen häufig keine Musik, weil sie noch nie welche gehört haben. Die Musik fehlt Ihnen nicht in ihrer Welt.
Ich sehe schon die Aufschreie einiger Gehörloser, die von sich selbst erzählen, dass sie ohne Musik nicht leben könnten. Die es lieben, ihre Hand aufs Klavier zu legen, Diskotheken zu besuchen oder ihre Stereoanlage zu Hause voll aufzudrehen. Sie nehmen die Schwingungen mit den Fingern, den Füßen und dem Bauch wahr. Dabei können sie sich viel besser auf Feinheiten konzentrieren als Hörende, deren Gehirn voll ausgelastet ist mit den Signalen von den Ohren. Für die Musikliebhaber unter den Gehörlosen kann das ein ähnlich schönes Erlebnis sein wie das "richtige" Hören.
Sehen statt hören
Die Welt hält für Gehörlose nicht weniger Schönheiten bereit, nur liegen die Schwerpunkte anders, als wir Hörende es gewohnt sind. Dass Gehörlose Schwingungen des Bodens, eines Tisches oder anderer Gegenstände viel bewusster wahrnehmen, haben wir eben schon erfahren. Vor allem nutzen sie aber ihr Sehen. Informationen zum Orientieren, Lernen, Interagieren mit der Umwelt, die Kommunikation - fast alles verläuft optisch. Sehr viele Gehörlose denken sogar in Gebärdensprache, daher der Name dieser Website. (Das Gehirn verarbeitet die Gebärdensprache jedoch in den Sprachzentren und nicht in den Arealen für visuelle Reize.)
Im Gegensatz zum Gehör, das ständig Geräusche aufnimmt, muss man mit den Augen hinschauen, um etwas zu sehen. Darum kann an Gehörlosen schnell mal etwas vorbeilaufen. Wie die Königin von England heißt, schnappen Hörende zwischendurch mal auf, ein Gehörloser weiß die Antwort nur dann, wenn er genau diese Information gelesen oder gesehen hat - en passant erfährt er das nicht. Das kann schnell zu Missverständnissen führen, wenn ein Gehörloser nicht zur Betriebsversammlung erscheint (der Termin wurde nur per Lautsprecher durchgegeben), den Geburtstag eines Kollegen vergessen hat (das heimliche Getuschel konnte er nicht hören) oder ein Kind nicht weiß, dass Hunde bellen. Deswegen sind Gehörlose nicht stur oder gar dumm. Man muss es ihnen nur so mitteilen, dass sie es sehen können.
Womit wir beim Thema Lippenlesen wären. Haben Sie das schon einmal versucht? Also, ich kann das kaum. Ein bisschen machen wir es unbewusst alle, doch alleine damit ganze Wörter oder Sätze zu verstehen, ist unheimlich schwierig. Aber von den Gehörlosen erwarten Hörende, dass sie alles verstehen, was wir vor uns hinnuscheln. Ich kenne Gehörlose, die sehr gut Absehen können, doch auch die müssen passen, wenn ich "ganz normal" fast ohne Lippenbewegungen spreche. Ein wenig mehr Anstrengung auf unserer Seite kann da wahre Wunder wirken.
Wenn die Unterhaltung in Gebärdensprache verläuft, dreht sich die Situation plötzlich um. Für Gehörlose ist es keine Schwierigkeit, einem Dialog zu folgen, in dem zwei Personen gleichzeitig gebärden (ich dagegen verliere sofort den Faden). Sie erkennen mühelos verwaschen ausgeführte ("genuschelte") Gebärden und können ohne Probleme in eine laufende Diskussion einsteigen. Möchten Sie eine Ahnung davon erhaschen, wie sich Gehörlose unter lauter Hörenden fühlen? Dann besuchen Sie eine Feier von Gehörlosen, oder gehen Sie zu einer Aufführung eines Gebärdensprachtheaters. Dieser Rat ist ernst gemeint. Sie lernen dadurch mehr als aus vielen, vielen schlauen Büchern.
Vielleicht haben Sie ja das Glück, an einem Abend mit Gebärdensprachpoesie teilnehmen zu können. Das gibt es wirklich, und das ist wunderschön. Auch wenn Sie überhaupt nichts verstehen. "Das kann man nicht übersetzen", hat eine Dolmetscherin auf den Kulturtagen der Gehörlosen gesagt. "Das ist wie bei einem Gedicht von Enzensberger: Man muss es einfach genießen." Auch ohne zu wissen, worum es in dem Gedicht geht - schön vorgetragene Gebärdensprachpoesie nimmt bei mir den direkten Weg zur Ebene der Gefühle. So wie sonst nur die Musik. "Die armen Hörenden haben keine Gebärdensprachpoesie..." ;-)
Eine sprachliche Minderheit
Mit der Gebärdensprache blühen Gehörlose auf, fallen die vermeintlichen Barrieren in ihrem Leben. In Gebärdensprache können sie sich locker über alles unterhalten, Witze machen (die sich unmöglich in Lautsprache übertragen lassen) und Lieder singen (einem Gebärdensprachchor zuzuschauen, ist einfach phantastisch). "Wir sind nicht behindert", erklären darum Gehörlose immer wieder Hörenden. "Wir sind eine sprachliche Minderheit." Und tatsächlich erinnern die durchaus vorhandenen Probleme Gehörloser in einer hörenden Umwelt weniger den Sorgen Behindeter, als vielmehr den Schwierigkeiten eines Deutschen in einem Urlaubsland, dessen Sprache er nicht kann.
Noch einen wesentlichen Unterschied zu beispielsweise Rollstuhlfahrern oder Blinden gibt es: Gehörlosigkeit kann man nicht sehen. Wenn man als Hörender einen Gehörlosen von hinten anspricht und er nicht reagiert, kann kein Mensch wissen, dass er nicht stur ist, sondern einfach nichts gehört hat. Oder Sie fragen jemanden nach dem Weg, und er antwortet völlig überraschend mit einer Stimme, die grell laut und unverständlich ist. Ich gebe zu, dass ich auch jetzt noch manchmal einen Schreck bekomme, wenn ich gerade nicht damit rechne. Es ist unglaublich schwierig für Gehörlose, ihre Stimme gut zu kontrollieren, ohne sich dabei selbst zu hören. Nur wenigen gelingt das so gut, dass kaum etwas zu bemerken ist, die meisten sprechen "seltsam", manche kann man gar nicht verstehen. Auf jeden Fall weiß ein Hörender vorher nicht, dass sein Gegenüber gehörlos ist und wie er sich verhalten soll.
Mag die Aussprache vielleicht undeutlich sein - "stumm" sind Gehörlose nicht und deshalb auch nicht "taubstumm". Diesen Begriff empfinden Gehörlose sogar als Beleidigung, und Hörende sollten ihn daher nicht gebrauchen. Er steht zwar immer wieder in Zeitungen, und viele Ärzte benutzen ihn, doch das zeigt nur, wie wenig wir Hörenden über Gehörlose wissen. Sagen Sie besser "gehörlos". Auch das Wort "taub" akzeptieren viele Gehörlose, manche bevorzugen es sogar, weil es nicht die Gehör-"losigkeit" betont.
Weil Gehörlose sich selbst als sprachliche Minderheit ansehen, ist die Gehörlosigkeit für sie auch keine Krankheit, wie viele Hörende sie einordnen würden. Wenn die berühmte Märchenfee ihre Runde bei Gehörlosen machen und jedem drei Wünsche zugestehen würde, bekäme sie bestimmt lauter Dinge genannt wie Haus, Reise, Auto, Computer, Motorrad, ... und auch Gesundheit. Mit dieser "Gesundheit" wäre aber meistens nicht gemeint: "Ich will hören können", sondern der Schutz vor Krankheiten und Behinderungen, zu denen Gehörlosigkeit eben nicht gezählt wird.
Das eben Geschriebene möchte ich aber einschränken: Es gibt sehr wohl Gehörlose, die sehr gerne hören würden. Vermutlich sind das sogar mehr, als es zugeben würden. Diese Gehörlosen sehen ihre Gehörlosigkeit häufig auch als Behinderung an und versuchen, sie zu minimieren, sie eventuell zu verbergen, jedenfalls so "normal" (was in diesem Fall "hörend" bedeutet) wie möglich zu sein. Daran ist nichts auszusetzen. Es ist eine persönliche Einstellung, die ebenso akzeptiert werden sollte wie die Entscheidung, sich voll auf die eigene Gehörlosigkeit einzulassen.
Ganz grob ausgedrückt gibt es also zwei Gruppen von Gehörlosen, die sich darin unterscheiden, ob sie die Laut- oder die Gebärdensprache als ihre Muttersprache ansehen. Leider lehnen einige Gehörlose die Entscheidung der jeweils anderen Gruppe ab, wodurch es zu Spannungen kommen kann. Dabei haben beide Parteien die gleichen Probleme in der Kommunikation mit Hörenden, sie gehen nur auf verschiedene Arten damit um. Etwas mehr Toleranz untereinander wäre sehr hilfreich, die gemeinsamen Probleme zu lösen.
Irgendwie anders
Als Lübecker, der nun in der Nähe von Heidelberg lebt, reibe ich mir manchmal verwundert die Augen, was für Sitten und Gebräuche es hier gibt. Und beim Urlaub in Frankreich, Ungarn, Dänemark oder sonstwo ist es ebenso. Und mitunter auch, wenn ich mit Gehörlosen Kontakt habe. Sie sind eben da, die kleinen Unterschiede im Verhalten. Nicht alle bei jedem Gehörlosen, aber so gaaanz pauschal betrachtet fallen gewisse Eigenheiten schon auf. Schließlich hat sogar das Visuelle Theater aus Hamburg einige Punkte in Sketche verarbeitet, die in der Fernsehsendung "Sehen statt hören" ausgestrahlt wurden. Hier seien drei Punkte genannt, die mir aufgefallen sind und den Kontakt zu Gehörlosen betreffen.
Wenn Sie einen Brief oder ein Fax von einem "typischen" Gehörlosen bekommen, werden Sie bemerken, dass es sofort zur Sache geht. Da gibt es keine Höflichkeitsfloskeln zur Einleitung und keine Umschreibungen, da steht nach der Anrede sofort: "Ich will mir deine Kreissäge ausleihen" oder etwas ähnliches. Direkt. Das kommt einem Hörenden schon komisch vor. Wir sind es gewohnt, alles ganz umständlich als höfliche Frage zu verpacken, umgeben von nichtssagenden Anläufen und nachfolgenden Belanglosigkeiten. Wenn ein Gehörloser so etwas liest, weiß er manchmal gar nicht, worum es in dem Brief eigentlich geht. Ihm sind klare Aussagen lieber. Mit Unhöflichkeit hat das nichts zu tun.
Sollten Sie ein Treffen mit einem Gehörlosen abmachen, kann es sein, dass Sie alleine am vereinbarten Ort stehen. Manche Gehörlose sehen Verabredungen nur dann als bindend an, wenn sie ausdrücklich "fest" abgemacht sind. Wollen Sie also auf Nummer sicher gehen, fragen Sie lieber nach, ob der Termin "fest" ist.
Richtig engen Kontakt zu Gehörlosen bekommen nur wenige Hörende. Selbst Leute, die gut gebärden können und sich schon jahrelang mit Gehörlosen treffen, sind oft erstaunt, wie unverbindlich die Beziehungen bleiben. Häufig sind es nur Zweckgemeinschaften, die so lange bestehen, bis ein gemeinsames Projekt abgeschlossen ist. Danach bricht die Verbindung ab oder geht zumindest stark zurück, bis es ein neues Ziel gibt. Kontakte ohne Anlass sind selten.
(Textauszug aus www.visuelles-denken.de)
Fachliches Info
Begriffseinleitung
Der Begriff Gehörlosigkeit bezeichnet das vollständige oder weitgehende Fehlen des Gehörs bei Menschen.
Der Begriff wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend im deutschen Sprachraum synonym oder anstelle von Taubheit verwendet. Von Taubheit wird dann gesprochen, wenn die betroffene Person keine akustische Wahrnehmung mehr hat. Taubheit kann unilateral, d. h. auf nur einem Ohr vorkommen, freilich aber auch bilateral, d. h. beidseitig vorkommen.
Das Wort gehörlos entstand erst nach der Einführung der allgemeinen Schulbildung tauber Kinder im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts als Begriff für einen Taubstummen, der durch eine unermüdliche Sprecherziehung entstummt worden ist. Daher hat das Wort die Bedeutung von „taub, aber sprechend“ erlangt, und taube Schulentlassene und Erwachsene werden als „Gehörlose“ bezeichnet.
Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen
Gehörlosigkeit ist synonym zu den Begriffen hochgradiger Schwerhörigkeit oder hochgradiger Hörschädigung oder Resthörigkeit. So hat medizinisch gesehen ca. 98 % aller Gehörlosen ein Restgehör. Wer dieses nicht hat, ist taub. Bei diesen drei Synonymen handelt es sich um eine Hörbehinderung, bei denen akustische Reize nur noch mit Hörhilfen wie dem Hörgerät oder einem Cochlea-Implantat wahrgenommen werden können. Dass Gesprochenes trotz Hörhilfen noch verstanden werden kann, bildet keine Voraussetzung. Tritt die Hörschädigung erst nach dem natürlichen Alter des Spracherwerbs auf (ca. ab dem 3. Lebensjahr), so spricht man von „postlingualer Ertaubung“, zu Deutsch „Spätertaubung“.
Der Begriff taubstumm wird von gehörlosen Personen als diskriminierend empfunden. Das Wort „taub“ ist etymologisch mit „stumm“ mit „dumm“ verwandt. Die englische Wendung „deaf and dumb“ bedeutet taubstumm – auch sie wird nicht mehr gebraucht. „Dumb“ hat die gleiche Bedeutung wie dumm. Außerdem können heute alle Gehörlosen bzw. taube Personen kommunizieren, ob in der Gebärdensprache oder in der Lautsprache. Daher ist im Deutschen entweder der Begriff „gehörlos“ oder „taub“ zu verwenden, während man im Englischen den Begriff deaf verwendet, wobei letzteres von deutschen und schweizer (Gebärdensprache bevorzugende) Gehörlosen gern als Synonym für „gehörlos“ verwendet wird. Allerdings wird das Wort von ihnen großgeschrieben – Deaf – analog zu Volksnamen, die gemäß der englischen Orthographie stets großgeschrieben werden, um die Ethnizität der Gehörlosenkultur (Deaf culture) zu verdeutlichen.
Ursachen und Feststellung von Gehörlosigkeit
Medizinisch wird Taubheit (lateinisch: Surditas) nach absoluter Taubheit für alle Schallreize und nach praktische Taubheit mit Hörverlust für laute Umgangssprache bei noch vorhandener Wahrnehmung einzelner Töne u. Geräusche (> 70 dB) unterschieden.
Angeborene Taubheit kann entweder vorgeburtlich erworben sein (durch Röteln-Embryopathie, Rh-Inkompatibilität mit Kernikterus, Labyrinthitiskonnatale Syphilis) oder als isolierte erbliche Form (meist autosomal-rezessiv) sowie im Rahmen von Fehlbildungssyndromen (z. B. Alport-, Jervell-Lange-Nielsen-, Waardenburg-, Cockayne-, Pendred- u. Usher-Syndrom) auftreten.
Erworbene Taubheit (Innenohrschaden) kann als Folge von z. B. (Meningokokken-)Meningitis, Enzephalitis, Scharlach, Masern, Tuberkulose, Osteomyelitis, Mittelohr-Erkrankungen, Otosklerose, (Baro-)Trauma u. a. (bei absoluter T. stets mit Innenohr- oder Hörnervbeteiligung) auftreten.
Nach dem Schlüssel der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD10) wird für Taubheit bzw. Gehörlosigkeit die medizinische Code-Bezeichnung „H91.9“ verwendet. Neben dem generellen Befund „Taubheit“ werden folgende weitere Formen definiert:
Psychogene Taubheit (F44.6)
Rindentaubheit (H90.5)
Seelentaubheit (R48.1)
Worttaubheit (F80.2)
Zentrale Taubheit (H90.5)
Diese Auflistung weist übrigens darauf hin, dass Taubheit auch anders als durch eine Beeinträchtigung der Hörorgane bedingt sein kann. So bezeichnet „Zentrale Taubheit“ den Sachverhalt, dass die Hörorgane intakt und funktionsfähig sind, jedoch im Hirn keine Verarbeitung der Höreindrücke erfolgt.
Eine von Geburt an vorliegende Beeinträchtigung des Gehörs wird häufig erst spät erkannt. Das Alter bei der Erkennung von Taubheit liegt im statistischen Durchschnitt bei etwas mehr als 2 Jahren. Man bemüht sich heute im deutschen Raum, ein so genanntes Hörscreening einzuführen. Bei diesem Verfahren wird das Neugeborene ein oder zwei Tage nach der Geburt in der Klinik mit einer Hörsonde auf seine Hörfähigkeit getestet, bei dem das Baby in der Regel schläft und nichts davon bemerkt.
Das physikalisch definierte Ausmaß der Gehörlosigkeit wird in der Regel mit einem audiometrischen Verfahren festgestellt, dessen Ergebnis das Audiogramm ist. Aus diesem lässt sich der Grad der Hörbehinderung feststellen.
Kultur: Eigene Sprache
siehe: Gebärdensprache
Kultur: Schulische Erfassung und Bildung
Im Gegensatz zur Spätertaubung im späten Jugend- oder Erwachsenenalter ist die „Gehörlosigkeit“ vor allem durch deren Bestehen von Kind auf gekennzeichnet. Damit gewinnt die Erziehung und schulische Bildung unter diesem Begleitaspekt eine besondere Bedeutung. Dies ist vor allem dadurch bedingt, dass die weltweit bestehenden regulären Schulsysteme ausnahmslos ihren Schwerpunkt in der mündlichen Vermittlung der Unterrichtsinhalte haben, in einer Form also, die tauben Kindern zunächst nicht zugänglich ist.
Die besonderen Schulen, die sich der Erziehung tauber Kinder widmeten, gewannen damit eine weit über die bloße Bildung hinausgehende Bedeutung für die Gemeinschaft der Gehörlosen. Dies war auch dann der Fall, wenn sie aktuell oder im Nachhinein auf Grund ihrer Methoden als repressiv empfunden wurden. Die Schulen und vor allem die mit ihnen verbundenen Internate waren der Sammel- und Kristallisationspunkt für die Tauben. Fast die gesamte historisch erfassbare Geschichte der Gehörlosen ist praktisch identisch mit der Geschichte der Gehörlosenpädagogik.
Bereits im 18. Jahrhundert bildeten sich zunächst zwei Ansätze von Unterrichtssystemen in Verbindung mit eigenen Sonderschulen heraus: das gebärdensprachlich orientierte System, und die lautsprachorientierte Methode, als deren jeweils erste Vertreter der französische Abbe de l'Epée und der Deutsche Samuel Heinicke angesehen werden. Um die Wirksamkeit und die Nützlichkeit dieser unterschiedlichen Ansätze entbrannte bereits früh ein Streit, der bis heute andauert, er ist als der „Methodenstreit“ zwischen der „deutschen“ bzw. „oralen“ Methode und der „französischen“, gebärdensprachlichen Methode bekannt geworden.
Unabhängig davon wie die Sprecherziehung, ob nun in Gebärdensprache oder auditiv-verbal, vollgezogen wird, ist der Unterricht im Lesen und Schreiben ähnlich dem von normalhörenden Kindern. Nicht unüblich ist es, dass dies schon im Kindergartenalter stattfindet.
Auf dem Mailänder Kongress von 1880 entschieden sich die damaligen führenden Pädagogen, alle tauben Kinder ausschließlich lautsprachlich zu schulen, Fortentwicklungen der Medizin und der Technik suggerierten die jeweils bald bevorstehende Heilbarkeit von Taubheit und wirkten zusätzlich fördernd für die „orale“ Methode. In den 1950-er Jahren wurde schließlich die so genannte auditiv-verbale Methode entwickelt, bei der taube Kinder nicht mehr nur artikulieren und Lippenablesen lernen, sondern – sofern Hörreste vorhanden waren – auch das Hören trainieren sollten. Die Auseinandersetzung hat sich an den Sonderschulen jetzt verlagert auf die Polarität zwischen rein lautsprachlich orientiertem Monolingualismus und dem Bilingualismus, der neben dem Gebrauch der Gebärdensprache für die parallele Lehre und Verwendung der Lautsprache plädiert.
Die aktuellen Ansätze zur schulischen Bildung tauber Kinder sind mittlerweile sehr differenziert geworden. Im deutschsprachigen Raum war bisher die Beschulung in einer Sonderschule für Gehörlose oder – bei größerem Resthörvermögen – einer Schule für Schwerhörige der Standard. Um das Jahr 2000 herum standen in Deutschland für schätzungsweise 10.000 bis 20.000 taube oder hochgradig schwerhörige Schüler etwa 60 Sonderschulen zur Verfügung. Das Rheinisch-Westfälisches Berufskolleg für Hörgeschädigte in Essen ist die größte Sonderschule für Schwerhörige und Gehörlose in Deutschland und führt Bildungsgänge bis zur Fachhochschulreife und zur Allgemeinen Hochschulreife. Die Schule wird von ca. 900 Schülerinnen und Schülern aus ganz Deutschland, zum Teil auch aus dem deutschsprachigen Ausland besucht.
Wegen der geringen Klassenfrequenzen lokaler Schulen bestimmten vor allem die schwächeren Kinder das Niveau an den Sonderschulen. Dies führte zunächst zu einer Abwanderung von den Gehörlosenschulen zu den Schwerhörigenschulen. Inzwischen hat sich, ausgehend von den körperbehinderten Kindern der Gedanke der Integration auch auf das Feld der Hörgeschädigten übertragen, mit der Folge eines Trends zur Abwanderung an die Regelschule.
Begünstigt wird diese Diversifizierung in Deutschland auch davon, dass letztlich die Eltern bestimmen können, welche Schule ihr Kind besucht, und diese das in ihren Augen gegebene Optimum zu wählen versuchen. Bei den Schulbehörden in Deutschland wird verschiedentlich auch der Regelschulbesuch mit dem Argument der „Integration“ offensiv gefördert, wobei im Hintergrund jedoch oft die Erwartung der Kostendämmung durch Einsparungen von Sonderschul-Pädagogen und separaten Schulen steht.
Der „integrative“ Schulbesuch an einer Regelschule hat keine einheitliche Fassung, es gibt neben dem sonderpädagogisch völlig unbegleiteten Regelschulbesuch noch den sonderpädagogisch und /oder von einer Gebärdensprachdolmetscherin begleiteten Schulbesuch, sowie sehr vereinzelt auch das Konzept der „umgekehrten“ Integration, bei der in eine Sonderschule nicht behinderte Kinder aufgenommen werden.
Je weniger sonderpädagogische oder sprachliche Unterstützung bei einem „integrativen“ Regelschulbesuch erfolgt, umso mehr ist der Erfolg dieses Schulbesuchs von besonders hoch entwickelten Fähigkeiten und Talenten des Kindes abhängig. Unberücksichtigt bleibt bei der Diskussion der integrativen Beschulung in der Regel die „Gefühlslage“ des Kindes, das im Klassenverband der anderen Kinder mehr oder weniger eine Sonderstellung einnimmt, die zusätzlich zum Unterrichtsstoff auch psychisch verarbeitet werden muss.
Kultur: Freizeit-, Sport- und Kulturvereine
Da taube Personen durch ihre Kommunikationsbehinderung in der Gesellschaft häufig isoliert sind, werden soziale Kontakte gern innerhalb von Gehörlosenkreisen gepflegt. Die über Jahrhunderte hinweg gepflegte Gemeinschaft mit gleichartig Betroffenen führte zumindest im außerberuflichen, privaten Bereich zur Entwicklung einer eigenen Kultur.
Zur speziellen Kultur der Gehörlosen gehört neben der Gebärdensprache beispielsweise, dass es in sämtlichen größeren Städten einen Verein und einen festen Treffpunkt, oft „Clubheim“ genannt, gibt. Stark entwickelt ist zudem der Gehörlosensport. So werden weltweit die Deaflympics jeweils ein Jahr nach den Olympischen Spielen veranstaltet.
Auch in den „schönen Künsten“ haben sich eigene Strukturen gebildet, so z. B. mit dem Gehörlosentheater, Gebärdensprachchören und den Kulturtagen der Gehörlosen.
Wichtiger Bestandteil der Gehörlosen-Kultur sind auch deren meist hörende Kinder, die der Gemeinschaft oft lebenslang verbunden bleiben und auch ihre eigenen Vereinigungen haben. Sie sind international unter dem Akronym CODAs – Children of Deaf Adults – bekannt.
Gehörlose, die in der Gehörlosen- und Gebärdensprachgemeinschaft leben, lehnen medizinische und juristische Definitionen von Gehörlosigkeit ab, nach denen sie unvollständig, reparaturbedürftig und behindert sind. Nach ihrem Selbstverständnis handelt es sich bei der Gehörlosengemeinschaft um eine sprachliche und kulturelle Minderheit.
Kultur: Interessenvertretungen
Als politische, soziale und kulturelle Interessenvertretung der Gehörlosen im deutschsprachigen Raum betrachten sich der Deutsche Gehörlosen-Bund, der Österreichische Gehörlosen Bund (ÖGLB), der Schweizerische Gehörlosenbund (SGB) und der Weltverband der Gehörlosen WFD.
Als politische und soziale – jedoch nicht kulturelle – Interessenvertretung im deutschsprachigen Raum für lautsprachlich kommunizierende Hörgeschädigte betrachten sich Lautsprachlich Kommunizierende Hörgeschädigte Deutschland (LKHD e. V.) und Lautsprachlich Kommunizierende Hörgeschädigte Schweiz (LKH Schweiz).
Kommunikation mit Lautsprache
Zum Verstehen lautsprachlicher Informationen sind gehörlose Personen auf das Lippenlesen und auf technische Hilfsmittel angewiesen. Sowohl visuell von den Lippenstellungen wahrnehmbare Sprechtöne als auch die eventuell mit Hilfsmitteln gehörten Töne sind für sie nur bruchstückhaft wahrnehmbar. Die übermittelte Information muss daher teilweise „erraten“ werden, wobei Hinweise aus dem Kontext der Umgebung und aus vorhergehenden Sätzen herangezogen werden. Bei größerem Umfang oder je nach Komplexität – z. B. in einem Vortrag – ist das sehr anstrengend bis gar unmöglich.
Vielfach wird bei nicht direkt therapierbarer Taubheit als medizinische Maßnahme eine technische Hörhilfe verschrieben bzw. angewendet. Technische Hörhilfen sind das Hörgerät sowie die chirurgisch eingesetzten Cochlea- (CI) und Hirnstamm-Implantate (Auditory-Brainsteam Implant, ABI). Der Erfolg dieser technischen Hilfsmittel ist individuell sehr unterschiedlich. Bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Taubheit können die derzeit bekannten Hörhilfen nicht den Umfang und die Differenzierung von Tönen und Geräuschen vermitteln, wie sie ein Mensch mit normalem Hörvermögen hat.
Das führt dazu, dass Hörhilfen allein zwar ein Hörerlebnis vermitteln, jedoch meist nicht ausreichen, um damit unmittelbar die Lautsprache zu verstehen. Dazu muss der Hörhilfen-Einsatz in der Regel von einem speziellen Training begleitet werden. Das taube Kind ist daher nicht nur auf technische Hilfsmittel, sondern auch auf eine spezielle Hör- und Sprecherziehung angewiesen, mit der – je nach Begabung und Übung – die Lautsprache erlernt werden kann. Für die eigene Sprech-Schulung ist die auditiven Rückkopplung oft nicht genügend nuanciert und die komplexe Kontrolle des Sprechapparates ist schwierig.
(Textauszug aus: www.wikipedia.de)